Wie die Lebensmittelindustrie aus Kindern Junkfood-Junkies macht und Fehlernährung verursacht – foodwatch-Report und Marktcheck mit 1500 Kinderprodukten vorgestellt
Unausgewogene Produkte, perfides Marketing und überbordende Lobbyarbeit: Die Lebensmittelindustrie leistet keinen Beitrag zur ausgewogenen Ernährung von Kindern, sondern trägt massiv zur grassierenden Fehlernährung bei. Das belegt der Report „Kinder kaufen“, den die Verbraucherorganisation foodwatch heute in Berlin vorstellte.
In einem aktuellen Marktcheck hat foodwatch 1.514 Kinderlebensmittel unter die Lupe genommen und mit den Kategorien der aid-Ernährungspyramide bewertet. Das Ergebnis: Fast drei Viertel der Produkte (73,3 Prozent) fallen in die „rote“ Kategorie an der Spitze der Pyramide. Es handelt sich um süße und fette Snacks, die nach den Empfehlungen des vom Bundesernährungsministerium geförderten „aid infodienst Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz“ nur „sparsam“ verzehrt werden sollten. Gerade einmal 12,4 Prozent der Produkte können der grünen Kategorie an der Basis der Pyramide zugeordnet werden – solche Lebensmittel sollten Kinder eigentlich „reichlich“ verzehrt werden. Fazit: Mit dem industriellen Angebot an Kinderlebensmitteln ist eine ausgewogene Ernährung praktisch unmöglich, denn es besteht fast ausschließlich aus Süßigkeiten und ungesunden Snacks. Die Hersteller stellen die Ernährungspyramide auf den Kopf: Ihre Produktpalette im Kinder-Segment entspricht ziemlich genau dem Gegenteil der ernährungsphysiologischen Empfehlungen.
„Die Industrie will Kinder so früh wie möglich auf ungesundes Junkfood programmieren“, sagt Anne Markwardt von foodwatch. „Dafür gibt es einen logischen Grund: Mit Obst und Gemüse lässt sich nur wenig Profit machen – mit Junkfood und Softdrinks schon mehr. Es lohnt sich ganz einfach nicht, gesunde Produkte ans Kind zu bringen.“ Während die Hersteller mit Obst und Gemüse Margen von weniger als 5 Prozent erzielen, erreichen sie bei Süßwaren, Softdrinks und Snacks Umsatzrenditen von 15 Prozent und mehr. Entgegen dem von vielen Unternehmen formulierten Anspruch, einen Beitrag zur ausgewogenen Ernährung von Kindern zu leisten, haben sie betriebswirtschaftlich größtes Interesse daran, möglichst viele unausgewogene Produkte zu verkaufen.
„Die Unternehmen tragen eine erhebliche Mitverantwortung für die grassierende Fehlernährung von Kindern“, sagt Anne Markwardt von foodwatch. „Die Lebensmittelindustrie ist nicht Teil der Lösung, sondern Kern des Problems, weil sie Kindern massenhaft Junkfood aufdrängt und sie zur falschen Ernährung verführt.“ Dass sich Kinder in Deutschland nicht gesund und ausgewogen ernähren, ist wissenschaftlich belegt:
- Kinder essen nur die Hälfte der empfohlenen Menge an Obst und Gemüse, aber weit mehr als 200 Prozent der empfohlenen Menge an Süßwaren, Snacks und Softdrinks
- Der Anteil übergewichtiger Kinder ist im Vergleich zu den 80er- und 90er-Jahren um 50 Prozent gestiegen. Heute gelten 15 Prozent der Kinder als zu dick, 6 Prozent sogar als fettleibig (adipös).
- Folgen sind erhöhte Risiken für Diabetes, Herzkreislauf- und andere schwerwiegende Krankheiten. Ein Prozent der Kinder leidet heute bereits an Altersdiabetes.
Mit perfiden Strategien versuchen die Unternehmen, Kinder so früh wie möglich an die eigene Marke zu binden und in jungen Jahren Geschmacksprägung möglichst für ein ganzes Leben zu erreichen. Gleichzeitig treten Vertreter der Süßwaren-Konzerne auf Kongressen als Experten für gesunde Kinderernährung auf und dienen sich dem Staat, Sportverbänden, Schulen und sogar Kindergärten als Partner für Anti-Übergewichtsprogramme und Bewegungsinitiativen an (siehe unten: Hintergrundpapier „Marketing- und Lobbystrategien für Kinderlebensmittel“). „Der Bock macht sich selbst zum Kindergärtner“, so Anne Markwardt von foodwatch. „Wir dürfen nicht mehr darauf hereinfallen, wenn sich Unternehmen, deren Ziel gar nicht anders lauten kann als immer mehr Süßwaren und Junkfood zu verkaufen, zum Ratgeber in Sachen gesunder Ernährung aufschwingen: Das sind scheinheilige Alibi- und Ablenkungsmaßnahmen, die nicht viel kosten. Jedenfalls weniger, als die omnipräsenten Junkfood-Produkte derselben Hersteller einspielen, die selbst in Schulen ‚Kauf mich‘ schreien. Es ist doch kein Zufall, dass die ganzen Comicfiguren und Gimmicks nicht zum Verzehr von ungezuckerten Haferflocken, sondern von pappsüßen Crispy-Pops verführen sollen.“
Auch der Staat versagt beim Thema gesunde Kinderernährung. Anstelle klarer Vorgaben für die Hersteller bindet die Bundesregierung die Junkfood-Industrie in ihre Initiativen und Aktionspläne gegen Übergewicht ein. So hat das Bundesernährungsministerium die „Plattform Ernährung und Bewegung“ (peb) initiiert, die sich dadurch auszeichnet, vor allem den angeblichen Bewegungsmangel und nicht die schlechte Ernährung von Kindern als Ursache für Übergewicht zu benennen. Prominente Mitglieder von peb: Coca Cola, Ferrero, der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie, McDonald’s, die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker, PepsiCo, Mars – Firmen, die kein Interesse an gesunder Ernährung, sondern am Verkauf von Snacks, Junkfood und Soft Drinks haben.
foodwatch fordert:
- Die Lebensmittelindustrie muss dort Verantwortung übernehmen, wo ihre Verantwortung tatsächlich liegt: Nicht in PR-trächtigen Alibi-Maßnahmen wie Bewegungsinitiativen und Ernährungstipps für den Schulunterricht, sondern in der Produktion ausgewogener Kinderlebensmittel. Die Verantwortung für die Fehlernährung von Kindern kann nicht allein auf Eltern abgewälzt werden.
- Produkte, die nicht ausgewogen sein können (wie Süßigkeiten) dürfen nicht länger als Kinderprodukte beworben und mit Comicfiguren, Spielzeugbeigaben, Gewinnspielen oder Idolen direkt an Kinder vermarktet werden.
- Schulen und Kindergärten müssen werbe- und PR-freie Räume werden.
- Die Junkfood-Industrie ist kein geeigneter Partner für den Staat, für Schulen und Sportverbände wie den Deutschen Fußballbund (DFB). Sponsoring-Partnerschaften und gemeinsame Programme zur Bewegungsförderung oder Übergewichts-Bekämpfung dienen den Unternehmen als Ablasshandel und müssen beendet werden.