foodwatch gibt Nestlé & Co. Mitschuld an Ausbreitung von Fettleibigkeit in Entwicklungsländern
- Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes nehmen in Ländern des Globalen Südens stark zu
- Lebensmittelkonzerne wie Nestlé drücken ihre ungesunden Produkte auf die Märkte
- Traditionelle Ernährungsweisen werden verdrängt
Die Verbraucherorganisation foodwatch hat globalen Lebensmittelkonzernen wie Nestlé und Coca-Cola eine Mitverantwortung für die rasante Ausbreitung von Übergewicht, Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes in Entwicklungs- und Schwellenländern vorgeworfen. Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Armut und Mangelernährung würden die Unternehmen mit aggressiven Marketingmethoden und zwielichtigen Lobby-Allianzen hochkalorische und stark verarbeitete Lebensmittel auf die Märkte drücken und traditionelle Ernährungsweisen verdrängen – Fehlernährung und ernährungsbedingte Krankheiten seien die dramatischen Folgen. Zugleich nutzen die Konzerne laut foodwatch ihren politischen Einfluss, um eine effektive staatliche Regulierung zur Eindämmung der Fettleibigkeitsepidemie zu verhindern.
„Nestlé, Coca-Cola & Co. präsentieren sich gerne als Wohltäter und Weltverbesserer. Doch in Wahrheit machen sie mit ihren Produkten Millionen von Menschen fett und krank und verursachen gigantische gesellschaftliche Folgekosten“, erklärte Thilo Bode, Geschäftsführer von foodwatch International.
Laut Weltgesundheitsorganisation hat sich in 73 Ländern der Erde der Anteil der Fettleibigen seit 1980 mindestens verdoppelt. Betroffen sind neben den westlichen Industrienationen auch Entwicklungs- und Schwellenländer in Asien, Afrika, Südamerika und dem Mittleren Osten. Besonders leiden junge Menschen: 124 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit sind fettleibig, etwa zehn Mal so viele wie 1975. Ähnlich erdrückende Zahlen gibt es zur Stoffwechselkrankheit Typ-2-Diabetes, die auch durch ungesunde Ernährung verursacht wird: Mit 422 Millionen Erkrankten hat sich die Zahl seit 1980 mehr als vervierfacht.
In seinem heute im S. Fischer Verlag veröffentlichten Buch „Die Diktatur der Konzerne – Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören“ gibt foodwatch-Gründer Thilo Bode multinationalen Konzernen eine Mitschuld an der globalen Fettleibigkeitsepidemie. Weil die Märkte in den Industrieländern im wahrsten Wortsinne gesättigt seien, würden Lebensmittelunternehmen mit aller Macht in die Märkte des Globalen Südens drängen. Dort würden sie Profit mit krankmachenden Lebensmittel machen. Die schädlichen Folgen – mehr Erkrankungen und höhere Gesundheitskosten – würden andere tragen. Die Macht der Konzerne sei so groß, dass Parlamente und Regierungen davor zurückschreckten, regulierend einzugreifen.
Drei Beispiele verdeutlichen, mit welchen Methoden große Lebensmittelkonzerne in Entwicklungs- und Schwellenländern Profit auf Kosten der Gesundheit machen:
- In Brasilien versucht Nestlé auch einkommensschwache Menschen in entlegenen Regionen für seine hochverarbeiteten Lebensmittel zu begeistern. So fuhr jahrelang ein Nestlé-Schiff etwa 1.000 Kilometer entlang des Amazonas und verkaufte die Produkte des Weltkonzerns in abgelegenen Ortschaften. Heute ziehen rund 7.000 Verkäuferinnen mit Nestlé-Handkarren in ärmeren Stadtvierteln von Tür zu Tür. Im Sortiment sind vornehmlich Produkte wie Eis, Kekse und Frühstücksflocken sowie ein „Frühstücks-Kit“ mit Milchpulver und Schokoflocken oder ein „Nachtisch-Kit“ mit Milchprodukten. Nestlé und andere Lebensmittelkonzerne pflegen derweil enge Kontakte zur Politik – unter anderem mit dem Ziel, verbraucherfreundliche und gesundheitspolitische Initiativen zu verhindern, so Bode. Als die brasilianische Regierung etwa Beschränkungen bei der Werbung an Kinder und eine transparente Lebensmittelkennzeichnung plante, seien beide Initiativen am Lobbydruck der großen Konzerne gescheitert. Dabei wäre ein Eingreifen der Politik dringend geboten: Der Anteil der erwachsenen Fettleibigen in Brasilien hat sich seit 1980 vervierfacht, bei Kindern fast verfünffacht. Jedes Jahr erkranken 300.000 Brasilianerinnen und Brasilianer an Typ-2-Diabetes.
- In Malaysia ist der Verkauf verarbeiteter Lebensmittel in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 100 Prozent gewachsen. Mehr als die Hälfte der Menschen ist übergewichtig oder fettleibig. Zugleich hätten globale Lebensmittelkonzerne die Ernährungswissenschaft des Landes unter ihrer Kontrolle, kritisierte Thilo Bode. Die führende Ernährungsgesellschaft Malaysias, die Nutrition Society of Malaysia, wurde zum Beispiel zu großen Teilen von Unternehmen wie Nestlé, Kellogg’s und PepsiCo finanziert. Einige ihrer Studien wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Konzerne vor Veröffentlichung begutachtet und freigegeben. Zudem veröffentlichte die Fachgesellschaft Broschüren unter anderem mit Anzeigen für überzuckerte Nestlé-Frühstücksflocken und wirbt für Nestlés Kinder-Programm in Schulen.
- In vielen Ländern in Afrika engagieren sich Lebensmittel- und Saatgutkonzerne in entwicklungspolitischen Allianzen. Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Mangelernährung und Hunger reichern die Konzerne Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais oder Pflanzenöle sowie verarbeitete Lebensmittel mit künstlichen Vitaminen und Mineralstoffen an. Dadurch sollen mangelernährte Menschen versorgt werden. Zwar sei es in akuten Notsituationen durchaus geboten, Grundnahrungsmittel anzureichern, doch die Konzerne verfolgten das Ziel, ihre Produkte langfristig, über Jahre hinweg auf den Märkten zu etablieren, kritisierte Bode. Lokale Alternativen und traditionelle Lebensmittel würden damit verdrängt – während die Konzerne mit ihren Produkten satte Gewinne machten. Um zum Beispiel Eisenmangel in Nigeria zu bekämpfen, bewarb Unilever – mit maßgeblicher Unterstützung durch Entwicklungshilfegelder – mit Eisen angereicherte Brühwürfel seiner Marke Knorr. Frauen wurden als Brühwürfel-Verkäuferinnen geschult. Zudem wurden Mütter und Töchter aufgefordert, beim Kochen Knorr-Würfel zu verwenden. In Kenia sponserte der Konzern TV-Kochshows, in denen Hobby-Köche Fertiggewürzmischungen der Unilever-Marke Royco verwenden mussten. Die globalen Konzerne investieren in Länder des afrikanischen Kontinents – und sichern sich damit Einfluss auf Regierungsprogramme in den betroffenen Ländern, schreibt Bode. Für die Investitions- und Hilfezusagen kämen die Regierungen den Unternehmen entgegen, etwa mit gentechnikfreundlichen Gesetzen und großzügigen Landnutzungsrechten. Die Konzerne würden zu einem scheinbar neutralen und unverzichtbaren Player in der Entwicklungshilfe, verfolgten in Wahrheit aber vor allem ihre eigenen Interessen. „Die Verlierer der neuen Lebens- und Essgewohnheiten, die mit den Konzernen aus den reichen Ländern Einzug halten, sind zuallererst die Armen“, kritisierte Bode.
In „Die Diktatur der Konzerne“ befasst sich foodwatch-Gründer Thilo Bode nicht nur mit den Machenschaften der globalen Lebensmittelkonzerne, sondern analysiert am Beispiel verschiedener Wirtschaftsbereiche – Banken, Energie- und Automobilkonzerne, Internetunternehmen – wie die Macht globaler Großunternehmen angewachsen ist. Internationale Konzerne zahlten kaum Steuern, schädigten die Umwelt, verstießen gegen Menschenrechte – und würden dafür selten zur Verantwortung gezogen.