„Verwesungsgeruch“ und „Mäusekot“: foodwatch veröffentlicht vertraulichen Task-Force-Bericht zum Fall Wilke
Dokument zeigt Totalversagen von Behörden und Unternehmen
- „Mäusekot“, „Fliegenbefall“ und „Verwesungsgeruch“ bei Wilke vorgefunden
- Trotz Listeriennachweis: Behörden verzichteten mehrfach auf öffentlichen Rückruf
- Falsche Information der Öffentlichkeit durch Hessische Verbraucherschutzministerin
foodwatch hat am Montag den vertraulichen Bericht der „Task-Force Lebensmittelsicherheit“ zum Listerienskandal um die Firma Wilke veröffentlicht. Das Dokument führt auf mehr als 30 Seiten detailliert auf, wie schwerwiegend die Hygieneverstöße bei dem Wursthersteller tatsächlich waren – und wie die Behörden vergeblich versuchten, die Lage in den Griff zu bekommen. Aus Sicht von foodwatch dokumentiert der Bericht auch, wie die hessischen Behörden mehrfach fatale Fehlentscheidungen trafen und nicht das Notwendige taten, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen.
„Wenn die Angaben in dem Bericht richtig sind, handelt es sich um ein Dokument des Totalversagens – von einem Unternehmen, das schon über einen langen Zeitraum offenbar nicht in der Lage war, sichere Lebensmittel herzustellen, und von Behörden, die mehr den Betrieb als die Verbraucherinnen und Verbraucher geschützt haben“, erklärte foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker.
Mit drastischen Worten führt die beim Regierungspräsidium Darmstadt angesiedelte Task-Force aus, in welch katastrophalem hygienischen und baulichen Zustand sie den Betrieb am 2. Oktober – als die Schließung bereits angeordnet war – vorgefunden hat. Aus einer Chronologie der Ereignisse geht hervor, wie die Behörden zuvor vergeblich versucht hatten, die Lage mit Hilfe von Kontrollen, Bußgeldern, Anordnungen und Reinigungsmaßnahmen in den Griff zu bekommen – und dabei scheiterten. Martin Rücker: „Das Wichtigste ist: Nach unserer Einschätzung hätte es schon viel früher mehrfach zu einem öffentlichen Rückruf von Wilke-Produkten kommen müssen. Die Behörden haben es versäumt, die Menschen zu schützen.“
Aus Sicht von foodwatch müssen den hessischen Behörden mehrere Vorwürfe gemacht werden:
1. Die Behörden griffen zu spät ein.
- Die Vielzahl der von der Task-Force beschriebenen, am 2.10.2019 vorgefundenen baulichen Mängel (Feuchtigkeit, fehlende Hygieneschleusen) erwecken den Eindruck, dass eine hygienische Produktion in den Räumlichkeiten im beschriebenen Zustand gar nicht möglich war. Dies musste auch bei früheren Kontrollen aufgefallen sein und hätte Konsequenzen nach sich ziehen müssen.
- Der Task-Force-Bericht führt auch frühere Fälle von Salmonellenbelastungen (September und Oktober 2013) auf und erwähnt „Unstimmigkeiten und Defizite“ in den Grundlagen des Hygienemanagements, die die Behörden bereits Anfang 2014 festhielten. „Auffälligkeiten“ habe es bereits 2012 gegeben. Es ist offensichtlich, dass die behördlichen Maßnahmen nicht ausreichend waren, um das in den Griff zu bekommen.
- Die Task-Force führt auf, dass 2018 bei Eigenuntersuchungen des Unternehmens jedes zweite (!) Fertigprodukt von Wilke mikrobiologisch „nicht in Ordnung“ gewesen sein soll, zudem hätten nötige Hygieneschulungen der Mitarbeiter nicht nachgewiesen werden können. Bei einem über Jahre hinweg bereits wegen seines Hygienemanagement auffälligen Betriebs wäre es aus Sicht von foodwatch unerlässlich gewesen, dass die Kontrollbehörde Eigenkontrollen und Hygieneschulungen engmaschig überwacht – und eine Einhaltung der Vorgaben durchsetzt.
2. Mehrfach verzichteten die Behörden auf die Anordnung öffentlicher Rückrufe und setzen damit die Verbraucherinnen und Verbrauchern unnötigen Risiken aus.
- Im März und April 2019 gab es dem Task-Force-Bericht zufolge bereits Listeriennachweise auf Wilke-Produkten, festgestellt von Behörden in Hamburg und Balingen (Baden-Württemberg). Ende August 2019 wird in Hamburg abermals auf Wilke-Produkten ein Listerienfund aufgelistet. Am 25.9.2019 legten hessische Behörden unter Beteiligung des Landesverbraucherschutzministeriums u.a. eine Rücknahme der vor dem 5.9. produzierten Ware fest. In allen Fällen gab es offenbar keinen öffentlichen Rückruf und damit keine Warnung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Dies wäre nur dann im Einklang mit dem Lebensmittelrecht, wenn mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die betroffenen Chargen die Endverbraucher noch nicht erreicht haben können.
3. Die Behörden griffen zu erkennbar unzureichenden Maßnahmen.
- Der Task-Force-Bericht führt vielfache Kontrollen und Probennahmen durch Unternehmen und Behörden auf. So habe es im April 2019 Listeriennachweise in der Produktion gegeben. Im Mai 2019 seien bei einem externen Audit Mängel bei der Maschinenreinigung festgestellt worden, ebenfalls im Mai 2019 vermerkten Amtskontrolleure „erhebliche Hygienemängel“ und verhängten ein Bußgeld. Immer wieder werden Reinigungsmaßnahmen durchgeführt, zum Teil von Behörden angeordnet. Dass damit jedoch die erheblichen baulichen Mängel nicht beseitigt werden konnten, ist offensichtlich. Zudem fehlte es nach Einschätzung von foodwatch an einer funktionierenden Nachkontrolle, ob die behördlichen Maßnahmen zur gewünschten Wirkung führten.
- Am 20. September 2019 verständigten sich die hessischen Behörden laut Task-Force-Bericht auf die Verfügung eines Verkehrsverbotes für geschnittene Produkte, bis diese negativ auf Listerien getestet wurden. Warum sich diese Verfügung auf geschnittene Produkte beschränkt, ist für foodwatch nicht nachvollziehbar, da zuvor aus verschiedenen Stellen der Produktion Listeriennachweise bekannt wurden und das Unternehmen erst am 10. September die Behörden verspätet über frühere Listereinnachweise in mehreren – auch ungeschnittenen – Produkten informiert hatte.
4. Die Behörden machten öffentlich falsche Angaben.
Bereits bekannt ist, dass die Angaben über die vom Rückruf betroffenen Wilke-Produkte zunächst falsch waren (Beschränkung auf Marke „Wilke“). Aus dem Task-Force-Bericht gehen zwei weitere Stellen hervor, an denen falsch oder mangelhaft informiert wurde:
- Hessens Verbraucherschutzministerin Priska Hinz gab öffentlich an, dass ab dem 20.9.2019 „nur noch auf einen Listerien-Schwellenwert hin geprüfte Produkte den Betrieb verlassen“ durften. Aus dem Task-Force-Bericht geht jedoch hervor, dass sich diese Verfügung offenbar nur auf „geschnittene Produkte“ bezog (siehe 3.).
- Der Landkreis Waldeck-Frankenberg hielt nach einer Betriebskontrolle am 5.9.2019 öffentlich fest, dass ein „Großteil der Mängel“, die bei einer vorherigen Kontrolle festgestellt worden waren, „abgestellt“ worden seien. Der Task-Force-Bericht rückt die Kontrolle in ein anderes Licht – u.a. habe es vom 6. bis zum 8.9. einen „Produktionsstopp“ zur „Reinigung und Desinfektion sämtlicher Produktionsräume“ gegeben.
In ihrem Bericht gibt die Task-Force in Bild und Text ihre Eindrücke aus dem Betrieb am 2. Oktober 2019 wieder, als diesem gerade die Produktion behördlich verboten worden war. Beschrieben werden einerseits mangelhafte Hygienezustände – die Rede ist u.a. von „massive[r] Schaum- und Biofilmbildung“, „deutliche[m] Kläranlagengeruch“, „vergammelte[n] Fleischsaftreste[n]“, „Verwesungsgeruch“, „große[n] Wasserlachen zwischen Produkten, „Kläranlagengeruch“, „Mäusekot“ und „Fliegenbefall“. Andererseits dokumentiert die Task-Force auch erhebliche bauliche Mängel, die insofern nicht erst kurzfristig aufgetreten sein können – so waren mehrere „Hygieneschleusen an den Übergangspunkten […] nicht vorhanden“, „…Kondenswasser von verschimmelter und verschmutzter Decke tropfte in direkt darunter stehende offene Fleischwannen“, durch die „ständige Feuchtigkeit“ seien „an einer Vielzahl von Stellen Biofilme, Schimmel, Rost und Kalk nachweisbar“ gewesen. Eine einheitliche Listerienquelle existiert nach Einschätzung der Task-Force nicht: „Vielmehr muss der gesamte Produktionsbereich als großflächig kontaminiert angesehen werden.“
Auch konnten dem Bericht zufolge es die erforderlichen Hygieneschulungen von Wilke-Mitarbeitern „nicht nachgewiesen werden“. Analysen der Keimbelastung Qualität von Fertigwaren, die der Hersteller Wilke selbst durchgeführt hatte, sollen zudem zeigen, „dass im Jahr 2018 die Hälfte der mikrobiologisch untersuchten Fertigprodukte nicht in Ordnung, also in mikrobiologischer Hinsicht auffällig waren. Dass dies offensichtlich keine ausreichenden Konsequenzen nach sich zog, lässt auf ein vollständiges Versagen des Eigenkontrollsystems schließen.“ Eine kritische Bewertung der behördlichen Maßnahmen nimmt die Task-Force größtenteils nicht vor. Nach Einschätzung von foodwatch zeugt der Bericht jedoch ebenso klar einem vollständigen Versagen der behördlichen Maßnahmen.
Anmerkung: foodwatch hat den Task-Force-Bericht aus einer als zuverlässig eingestuften Quelle erhalten. Wir haben keine Informationen darüber, ob alle im Bericht der hessischen „Task-Force Lebensmittelsicherheit“ dargestellten Fakten und Ausführungen korrekt sind.