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Wenn der Staat gegen Gesetze verstößt

Hallo und Guten Tag,

vor einigen Jahren knöpfte sich die EU die Lebensmittelindustrie einmal richtig vor. Die hatte es allzu bunt getrieben und es regelrecht zur Masche entwickelt, auch noch so ungesunde Lebensmittel als gesund zu vermarkten. Also verabschiedete die EU ein Gesetz gegen all die irreführende Werbung – mit dem Ziel, unsere Gesundheit zu schützen. 2006, also VOR FAST 14 JAHREN, trat die Verordnung in Kraft. Die Idee war gut, die Wirkung aber sehr begrenzt. Denn, so unvorstellbar dies klingt: Ein ganz zentraler Teil dieses Gesetzes ist in all den 14 Jahren seiner Gültigkeit niemals eingehalten worden. Weil ausgerechnet die Europäische Kommission selbst gegen das Gesetz verstößt und sich – bis heute! – einfach nicht an „ihre eigenen“ Vorgaben hält.

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Mit dem Gesetz wollte die EU damals konsequent Schluss machen mit all den wilden Gesundheitsversprechen, mit denen Hersteller selbst die größte Kalorienbombe zum Wunderdrink umdeuteten. Eine der neuen Regelungen sah vor, dass Gesundheitswerbung überhaupt nur noch für gesunde Lebensmittel erlaubt sein sollte. Eigentlich selbstverständlich, könnte man denken, und doch bis heute nicht mehr als schöne Theorie… Denn erst einmal musste die Europäische Kommission festlegen, welche Kriterien Lebensmittel überhaupt erfüllen sollen, die die Hersteller weiter als gesund anpreisen dürfen. „Bis zum 19. Januar 2009“, so heißt es klipp und klar in der Verordnung von 2006, musste die Kommission entsprechende „Nährwertprofile“ erstellen. 

19. Januar 2009: Dieser Stichtag ist seit elfeinhalb (!) Jahren verstrichen. Passiert ist bis heute: nichts. Auf Druck der Lebensmittelwirtschaft hat die Europäische Kommission nicht getan, wozu sie verpflichtet war. Sie lesen richtig: Heute, im August 2020, gibt es noch immer keine Nährwertprofile für gesunde Lebensmittel. Dabei sind diese Kriterien die ZENTRALE Voraussetzung, damit das Gesetz seinen Zweck erfüllen kann. Mit ihrer Unterlassung konterkariert die Europäische Kommission das Ziel der ganzen Verordnung, den Gesundheitsschutz. Denn solange die Kriterien fehlen, darf die Lebensmittelindustrie praktisch jedes noch so ungesunde Produkt – eine hoch salzige, mit Zusatzstoffen versehene Salami etwa, eine zuckrige Limonade, selbst klebrige Bonbons – einfach weiter mit Gesundheitsversprechen bewerben, solange sie nur ein paar billige synthetische Vitamine zusetzt. Die machen aus dem Produkt natürlich noch lange kein gesundes Lebensmittel. Aber ein gesunder Eindruck vortäuschen lässt sich damit allemal. Die TÄUSCHENDEN GESUNDHEITSVERSPRECHEN gehen also bis heute einfach weiter.

Was uns an diesem Fall besonders empört: Das Problem – irreführende Werbung, die Menschen zum Kauf ungesunder Lebensmittel verleitet – war längst erkannt. Die Lösung stand im Gesetz und war mit demokratischer Mehrheit verabschiedet. Und dann hält sich ausgerechnet die Europäische Kommission nicht daran. Das wollen wir nicht akzeptieren. Bitte helfen Sie uns dabei, öffentlich Druck zu machen, wenn staatliche Institutionen selbst Verbraucherschutzgesetze missachten: Stärken Sie uns, indem Sie jetzt Förderin/Förderer von foodwatch werden!

Ein anderer Fall: Gerade erst vier Wochen alt ist der Bundesratsbeschluss zum „Kastenstand“. Sie erinnern sich wahrscheinlich: Die Länderkammer stimmte zu, dass Muttersauen noch für viele Jahre weiter in den engen Käfigen gehalten werden dürfen, obwohl es sich dabei um eine anerkannte Tierqual handelt. Doch ginge es nach dem Recht, dürfte es derartig enge Kastenstände in der Sauenhaltung seit fast drei Jahrzehnten schon nicht mehr geben. Denn seit 1992 regelt eine Verordnung: Schweine müssen sich ungehindert ausstrecken können. In den engen Käfigen ist das unmöglich, wie mehrere Gerichte und zuletzt das Bundesverwaltungsgericht 2016 in letzter Instanz entschieden hatten. Dennoch war die Mehrheit im Bundesrat und zuvor bereits die Bundesregierung dafür, Kastenstände noch für mindestens acht weitere Jahre zu erlauben, als „Übergangsregelung“: Es ist nichts anderes als die Verabredung, einen bekanntermaßen tierschutzwidrigen Zustand für dann insgesamt 36 Jahre zu akzeptieren.

Wir halten das für einen hochproblematischen und demokratieschädlichen Beschluss. Eine große Bewegung in unserer Gesellschaft, die gegen die Kastenstände protestierte, hatte etwas anderes erwartet. Viele haben darauf verwiesen, dass das Staatsziel Tierschutz fest in unserem Grundgesetz verankert ist – und dann fassen mit Bundesregierung und Bundesrat zwei Staatsorgane einen Beschluss, der so gar nicht mit diesem Staatsziel in Einklang zu bringen ist. 

Nicht weniger kritisch ist es, wenn Behörden, von deren Handeln wir abhängig sind, ihre Aufgaben einfach nicht erfüllen. Bei den rund 400 Lebensmittelbebörden in Deutschland ist dies ein systematisches Problem. Das sind jene Ämter, die unsere Gesundheit schützen sollen: indem sie in den Lebensmittelunternehmen die Hygiene prüfen, Proben nehmen, auf Salmonellen und andere Keime testen lassen – und die notfalls auch Betriebe schließen. Doch im vergangenen Jahr haben wir mit aufwändigen Recherchen nachgewiesen, dass 90 PROZENT DER ÄMTER GEGEN IHRE VORSCHRIFTEN VERSTOßEN: Sie kontrollieren viel weniger Betriebe und viel seltener als es vorgeschrieben ist. Vor allem weil die Städte und Landkreise an Personal sparen, fällt im Durchschnitt bundesweit etwa jeder dritte vorgeschriebene Kontrollbesuch aus

Liebe foodwatch-Interessierte, wenn ausgerechnet staatliche Institutionen so achtlos mit Rechtsvorschriften umgehen, untergräbt dies das Vertrauen in unsere Demokratie. Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn Sie dies auch so sehen, unterstützen Sie uns bei unserer Arbeit als Förderin/Förderer von foodwatch!

Vielleicht fragen Sie sich: Wie kann es sein, dass Gesetze und Vorschriften von staatlichen Institutionen so einfach missachtet werden? Warum klagt niemand dagegen? Zum Beispiel gegen die Bürgermeisterinnen oder Landräte, die einfach nicht so viele Lebensmittelkontrolleure einstellen, wie es in ihren Städten und Kreisen erforderlich wäre? Die Antwort darauf ist ernüchternd, liebe foodwatch-Interessierte: Wenn sich Unternehmen nicht an Verbraucherschutzgesetze halten, können wir als Organisation dagegen vor Gericht ziehen. Ein Klagerecht gegen den Staat haben wir in diesem Fall jedoch nicht. Solches ist dringend nötig, denn die Beispiele zeigen, dass auch staatliche Institutionen gegen Rechtsvorschriften verstoßen können, die Verbraucherinnen und Verbraucher schützen sollen. In unserer Kampagnenarbeit wollen wir uns deshalb für ein Klagerecht einsetzen. Verbände müssen endlich in der Lage sein, die kollektiven Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher auch gegenüber dem Staat zu vertreten. Bitte helfen Sie uns dabei und unterstützen Sie uns als Förderin/Förderer von foodwatch!

Vielen Dank und herzliche Grüße


Ihr Martin Rücker
Geschäftsführer von foodwatch