Strahlen-Grenzwerte für Lebensmittel: Ein Grenzwertchaos

Strahlen-Grenzwerte für Lebensmittel

Tschernobyl-Verordnung, Schubladen-Verordnung, Fukushima-Verordnung – in der EU herrscht ein kaum zu durchschauendes Grenzwert-Chaos. Welche Strahlenlimits für welche Lebensmittel gelten, ist in einer Vielzahl unterschiedlicher Gesetze geregelt. Ein Überblick.

In der EU gelten in Folge der Tschernobyl-Katastrophe Grenzwerte für die Strahlenbelastung von Lebensmittel-Importen aus Drittstaaten mit dem Radionuklid Cäsium in Höhe von 370 Becquerel/Kilogramm für Säuglingsnahrung und Milchprodukte sowie in Höhe von 600 Becquerel/Kilogramm für andere Nahrungsmittel. Diese werden auch für den Handel innerhalb der EU angewandt. Für Importe aus Japan hat die EU in Reaktion auf Fukushima vorübergehend strengere Höchstgrenzen festgesetzt.

Wie stark dürfen Lebensmittel radioaktiv belastet sein? Diese Frage hängt auch davon ab, woher die Produkte kommen. Innerhalb der Europäischen Union gelten unterschiedliche Höchstgrenzen: strengere für japanische Ware in Folge der Fukushima-Katastrophe, weniger strenge für Produkte aus der Tschernobyl-Region und mit anderer Herkunft. Die derzeit geltenden Grenzwerte sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst:

Tabelle 1: Aktuelle Grenzwerte für Gesamt-Cäsium, Stand Oktober 2012

Säuglingsnahrung und
Milchprodukte
andere Lebensmittel
EU-Grenzwerte für Importe
aus Drittstaaten (angewandt auch innerhalb der EU)
370 Bq/kg600 Bq/kg
EU-Grenzwerte für Importe
aus Japan
50 Bq/kg100 Bq/kg
Japanische Grenzwerte50 Bq/kg

100 Bq/kg
(Trinkwasser:
10 Bq/kg)

Grenzwertforderung
foodwatch/IPPNW
8 Bq/kg

16 Bq/kg

Die Höchstgrenzen basieren auf einer Reihe unterschiedlicher Gesetzgebungen, und im Falle einer Atom-Katastrophe sind abweichende Werte vorbereitet, die per EIlverordnung in Kraft gesetzt werden können. Wer die unübersichtlichen Grenzwertregime in der Europäischen Union verstehen will, muss eine Vielzahl von Verordnungen kennen. Ein Überblick:

Tschernobyl-Verordnung: Allgemeine Grenzwerte

Für Lebensmittelimporte aus Drittstaaten gelten seit der Tschernobyl-Katastrophe die Grenzwerte der so genannten Tschernobyl-Verordnung (VO 733/2008). Diese Grenzwerte werden grundsätzlich auch innerhalb Europas und Deutschlands angewandt, also zum Beispiel für Pilze aus Bayern, die in Folge der Tschernobyl-Katastrophe bis heute belastet sind. Die Grenzwerte beziehen sich nur auf Cäsium:

Tabelle 2: Allgemeine Cäsium-Grenzwerte seit Tschernobyl

Säuglingsnahrung und
Milchprodukte
Andere Lebensmittel
Cs-134 und Cs-137370 Bq/kg600 Bq/kg

Schubladenverordnung regelt Notfall-Werte

Nach Tschernobyl wurden zudem Grenzwerte für den Katastrophenfall festgelegt, und zwar in der VO 3954/87, geändert durch die VO 2218/89. Diese haben grundsätzlich keine Gültigkeit, können aber im Falle eines atomaren Unglücks von der Europäischen Kommission mit Hilfe einer Durchführungsverordnung in Kraft gesetzt werden. Weil dies so ist, bezeichnet man die VO 3954/1987 auch als „Schubladenverordnung“. Zur Vorbereitung auf eine mögliche Atomkatastrophe in Europa wurden darin höhere, also weniger strenge Grenzwerte festgelegt, um eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Neben Cäsiumwerten wurden auch Höchstgrenzen für Jod-, Strontium- und Plutonium-Isotope gesetzt.

Tabelle 3: Notfall-Grenzwerte nach der „Schubladen-Verordnung“

Säuglings-
produkte
Milcher-
zeugnisse
Andere Nahrungs-
mittel außer
Nahrungs-
mittel von
geringer Bedeutung
Flüssige
Lebens-
mittel
Strontium-Isotope
(v.a. Strontium-90)
75 Bq/kg125 Bq/kg750 Bq/kg125 Bq/kg
Jod-Isotope
(v.a. Jod-131)
150 Bq/kg500 Bq/kg2.000 Bq/kg500 Bq/kg
Alphateilchen
emittierende
Plutoniumisotope und
Transplutonium-
elemente (v.a.
Pu-239, Am-241)
1 Bq/kg20 Bq/kg80 Bq/kg20 Bq/kg
Alle übrigen Nuklide mit einer
Halbwertszeit von
mehr als 10 Tagen,
v.a. Cs-134 und -137
400 Bq/kg1.000 Bq/kg1.250 Bq/kg1.000 Bq/kg

Zusätzlich wurde für „Nahrungsmittel von geringer Bedeutung“ (darunter fallen u.a. Fischöle oder Kakaobohnen) in der VO 944/1989 festgelegt, dass diese die Grenzwerte für „andere Lebensmittel“ (siehe Tabelle) noch um das Zehnfache überschreiten dürfen. In der VO 770/90 wurden zudem Grenzwerte für Futtermittel festgelegt.

Nach Fukushima: Notfallgrenzwerte ohne Not

Obwohl sich das Atom-Unglück nicht in Europa, sondern in Japan ereignet hatte, setzte die Europäische Kommission nach Fukushima am 25. März 2011 die weniger strengen Notfallgrenzwerte aus der Schubladenverordnung in Kraft, und zwar begrenzt auf Importprodukte aus Japan. Dazu erließ sie die Durchführungsverordnung 297/2011.

Strengere japanische Limits auf Europa übertragen

Nachdem öffentlich bekannt wurde, dass die EU damit ohne Not Grenzwerte für japanische Produkte in Kraft gesetzt hatte, die weniger streng waren als zuvor und zudem weniger streng als in Japan selbst, korrigierte die Kommission ihre Entscheidung bereits am 8. April 2011. Mit der VO 351/2011 vom 11. April 2011 (noch einmal berichtigt am 12. April) wurden Grenzwerte für japanische Lebensmittelimporte festgelegt, die den jeweils niedrigsten Werten aus den drei Grenzwertregimen (EU-Notfallgrenzwerte, EU-Normalgrenzwerte, japanische Grenzwerte) entsprachen. Diese Grenzwerte wurden befristet bis zum 30. Juni 2011 in Kraft gesetzt.

Tabelle 4: Grenzwerte für Lebensmittel-Importe aus Japan nach Fukushima, gültig bis März 2012

Säuglings-
produkte
Milcher-
zeugnisse
Sonstige Lebens-
mittel,
außer flüssigen
Lebens-
mitteln
Flüssige
Lebens-
mittel
Strontium-Isotope
(v.a. Strontium-90)
75 Bq/kg125 Bq/kg750 Bq/kg125 Bq/kg
Jod-Isotope
(v.a. Jod-131)
100 Bq/kg300 Bq/kg2.000 Bq/kg300 Bq/kg
Alphateilchen
emittierende
Plutoniumisotope und
Transplutoniumelemente
(v.a. Pu-239, Am-241)
1 Bq/kg1 Bq/kg10 Bq/kg1 Bq/kg
Alle übrigen Nuklide mit
einer Halbwertszeit von
mehr als 10 Tagen (v.a.
Cs-134 und -137, außer
C-14 und H-3)
200 Bq/kg200 Bq/kg500 Bq/kg200 Bq/kg

Diese zunächst nur kurz befristeten Grenzwerte für japanische Import-Lebensmittel wurden später verlängert, zuletzt mit der Verordnung 961/2011 – und zu Anfang April 2012 noch einmal überarbeitet Grund dafür ist die drastische Verschärfung der Höchstwerte für die langlebigen Cäsium-Nuklide innerhalb Japans, die die Europäische Union nachvollzog. Seit April gelten für Produkte aus Japan daher (wie auch innerhalb Japans) gemäß der Verordnung 284/2012 folgende Cäsium-Limits:  

Tabelle 5: Cäsium-Grenzwerte für japanische Import-Produkte seit April 2012

Milch-
produkte
Trink-
wasser
Kinder-
lebens-
mittel
andere Lebens-
mittel
Gesamt-Cäsium50 Bq/kg10 Bq/kg50 Bq/kg

100 Bq/kg

Die verschärften Strahlenhöchstwerte für japanische Import-Produkte wurden zunächst befristet bis zum 31. Oktober 2012 festgesetzt, mittlerweile bis zum 31. März 2014 verlängert.