Vom Land in den Mund
Ein Buch, das Sie zu jeder Tages- und Nachtzeit und auf jeder Seite beginnen, weiterlesen können. Immer wird es ein Lesevergnügen sein – und niemals werden sie eine klare Antwort auf Ihre nicht gestellten Fragen bekommen. Aber vielleicht ein Vorurteil hinterfragen - wenigstens. Trotzdem (oder deswegen) werden Sie Lieblingskapitel finden – die vielleicht „Gegacker“, „Die Samenhandlung“, „Böse braune Kräutergärten“ oder „Selbstversorger“ heißen werden.
„Warum sich die Nahrungsindustrie neu erfinden muss“ – wie es der Untertitel dieses wunderbaren Büchleins behauptet, bleibt jedoch letztlich unklar. Die Nahrungsindustrie ist nämlich mit ihren Bilanzen beschäftigt. Viel Zeit bleibt nicht für Neuerfindungen – es sei denn, in den Marketingabteilungen. Ohne politischen Druck rührt sich recht wenig. Das haben wir bei foodwatch mehr als einmal nachgewiesen, wodurch (unter anderem) wir zum Lieblingsfeind der Branche aufgestiegen sind. Aber das ist eine andere Geschichte.
Autor und FAZ-Redakteur Jan Grossarth sammelt Begegnungen mit den unterschiedlichsten Akteuren der Branche. Und seine Kunst besteht darin, alles ganz zufällig wirken zu lassen. Das macht die Lektüre luftig, auch wenn es ans Eingemachte geht. Bis auf eine (völlig berechtigte) Ausnahme stellt er keinen seiner Protagonisten bloß – und doch entsteht eine Art Panoptikum der Agrardebatte. Ein Strudel aus Argumenten, Sichtweisen, Widersprüchen. Aber keine Lösung, nirgends. Nur mehr oder weniger sinnhafte „Thesen“ an den Kapitelanfängen, die meistens an die Ernährungsindustrie appellieren – mal, ehrlich zu sein, mal, die Tiere zu respektieren, mal, nicht jeder esoterischen Mode hinterherzulaufen.
Leseproben sind heutzutage Standard im Online-Buchhandel – warum nicht auch in einer Online-Buchbesprechung? Leseprobe also aus dem Kapitel „Gegacker“, dem die (ernstgemeinte?) „These“ vorangestellt ist, die Industrie solle weiterhin wie Industrie denken, weil das ja sonst niemand täte: „Das moderne Huhn ist umstritten. So wie die Hells Angels, Putin oder das Betreuungsgeld. Es sei überzüchtet. Von der Agroindustrie. Wegen des Profits. Die Leute sehnen sich nach ursprünglichen, glücklichen Hühnern. Der grüne, schwarze, rote oder gelbe Bourgeois, wie alle seine Mitbürger, gibt sich zunehmend als Hühnerkritiker. Wer die Zeichen der Zeit erkannt hat, hackt auf dem Huhn herum. (…) Die Hühnerkritiker haben gute Argumente, aber viele übertreiben (…) Wir stellen das Huhn in Frage. Dabei ist es die Antwort. (…)“
Ein Lesevergnügen voller feiner Ironie und überraschender, kluger Beobachtungen.
Jan Grossarth: „Vom Land in den Mund. Warum sich die Nahrungsmittelindustrie neu erfinden muss.“
Nagel & Kimche 2016, 17,90 Euro.
foodwatch erhält für diese Rezension kein Geld und ist am Absatz des Buches in keiner Weise beteiligt.