Breitet sich Übergewicht aus, weil sich die Menschen zu wenig bewegen?
Bewegung ist wichtig, um gesund zu bleiben, das ist klar. Wenn wir Sport treiben, dann verbrauchen wir mehr Kalorien. So können wir unser Gewicht halten oder auch leichter abnehmen. Aber der Anteil stark übergewichtiger Menschen hat sich weltweit seit 1975 fast verdreifacht. Liegt es daran, dass wir uns zu wenig bewegen? Luise Molling von foodwatch antwortet:
Die Daten zeigen: Nein. Während die Zahl der übergewichtigen und stark übergewichtigen Kinder und Jugendlichen insbesondere gegen Ende des 20. Jahrhunderts weltweit deutlich gestiegen ist, gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass sich Kinder in diesem Zeitraum weniger bewegt haben. Auch bei Erwachsenen weisen Studien darauf hin, dass der Energieumsatz, also die Anzahl der durch Bewegung verbrannten Kalorien, heute nicht geringer ist als in den 80er Jahren . Was Daten der FAO hingegen eindeutig zeigen: Die Kalorienaufnahme ist in allen westlichen Industrienationen schon seit den sechziger Jahren deutlich gestiegen – in Deutschland von durchschnittlich 2.885 Kalorien am Tag (1961) auf 3.499 Kalorien am Tag (2013).
Wir leben in einer „adipogenen“ Umwelt
Wie ist das zu erklären? Expert:innen sprechen davon, dass wir in einer „adipogenen“ Umwelt leben: Unausgewogene, kalorienreiche Lebensmittel stehen überall zur Verfügung und es ist im Alltag schwer, eine gesunde Wahl zu treffen. Das Angebot an Erfrischungsgetränken ist beispielweise völlig überzuckert, die Zusammensetzung verarbeiteter Lebensmitteln ist für Laien schwer zu erkennen. Zudem bewirbt die Lebensmittelindustrie fast ausschließlich Süßigkeiten, Limos und Snacks an Kinder und Jugendliche.
Fragen stellen als foodwatch-Mitglied
Brennt Ihnen auch eine Frage unter den Nägeln? Ernährungsberaterin Alice Luttrop steht Ihnen Rede und Antwort – ein exklusiver Service für foodwatch-Mitglieder.
Jeder siebte Todesfall auf Ernährung zurückzuführen
Die Folge: Kinder und Jugendliche hierzulande essen mehr als doppelt so viel Süßigkeiten und Snacks, aber nicht mal halb so viel Obst und Gemüse wie empfohlen. Jeder siebte Todesfall ist in Deutschland auf ungesunde Ernährung zurück zu führen. Damit töten Burger, Pommes, Limo & Co. etwa genauso viele Menschen wie das Rauchen.
Die Fachwelt spricht mittlerweile von einer „Adipositas-Epidemie“. Um diese in den Griff zu bekommen, fordern die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Ärzteverbände und medizinische Fachgesellschaften verhältnispräventive Maßnahmen, die eine gesunde Ernährung im Alltag erleichtern – wie eine Nährwert-Ampel auf Produktverpackungen, eine Limo-Steuer und ein Verbot des Kindermarketings für ungesunde Lebensmittel.
Die Ernährungsindustrie lenkt von eigener Verantwortung ab
Und ja: Auch Bewegungsförderung gehört dazu. Denn nur jedes vierte Mädchen und jeder dritte Junge erfüllt hierzulande die WHO-Empfehlung von 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag. Zumindest in der letzten Dekade ist die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen nachweislich gesunken . Allerdings ist zu wenig Bewegung eben nur ein Faktor von vielen für Übergewicht. Wenn also Coca-Cola Sportveranstaltungen sponsert und der führende Lobbyverband der Lebensmittelindustrie mit dem Finger ausschließlich auf den Bewegungsmangel zeigt, wenn es um das steigende Übergewicht in der Gesellschaft geht – dann wollen sie damit vor allem von der eigenen Verantwortung ablenken. Die Fokussierung auf Bewegung als Strategie gegen Übergewicht kann dazu führen, dass Menschen einerseits den Effekt von Bewegung und die dabei verbrannten Kalorien über- und andererseits die Rolle der Ernährung für die Entstehung von Übergewicht unterschätzen .
Zur Veranschaulichung ein Rechenbeispiel: Greift ein 12-jähriger Junge in der Pause statt zum Apfel zum Schokoriegel, hat er etwa 250 Kalorien mehr aufgenommen, als er mit dem Apfel zu sich genommen hätte. Um diese 250 Kalorien wieder abzutrainieren, müsste er beispielsweise mehr als eine halbe Stunde Fußball spielen. Das ist für ein sportliches, schlankes Kind gerade noch zu schaffen, Hat der Junge aber bereits länger zu viel Süßes und Fettiges gegessen und einige Kilos zu viel auf der Waage, wird sportliche Betätigung mühsam und es entsteht ein Teufelskreis, aus dem er nur schwer wieder heraus kommt.
So wichtig tägliche Bewegung auch ist: Wenn sich Kinder dauerhaft unausgewogen ernähren, ist dem entstehenden Übergewicht allein mit Bewegung nicht mehr beizukommen. Daher ist es wichtig, Fehlernährung effektiv zu bekämpfen und Übergewicht gar nicht erst entstehen zu lassen.
Mit Kinderärzt:innen gegen Junkfood-Werbung!
Über 300 Kinderärzt:innen haben daher bereits einen Appell an Ernährungsminister Cem Özdemir unterzeichnet. Schließen Sie sich an! Gemeinsam fordern wir: Noch dieses Jahr muss er ein wirkungsvolles Gesetz gegen Kindermarketing ohne Schlupflöcher für die Junkfood-Industrie auf den Weg bringen.