„Ist Stevia die gesündere Alternative zu Zucker – beispielsweise jetzt in der Weihnachtszeit zum Backen?“
Antwort der Ernährungsexpertin Astrid Gerstemeier:
Über „Stevia“ wird zurzeit viel geredet – aber zunächst einmal: Was ist Stevia überhaupt? Auf dem Markt sind hunderte Stevia-Pflanzen erhältlich, aber nur die Blätter der Sorte "Stevia rebaudiana" enthalten die begehrten süßlichen Inhaltsstoffe. Die blattreiche, krautartige Pflanze stammt ursprünglich aus dem Grenzgebiet zwischen Brasilien und Paraguay. Für den süßen Geschmack verantwortlich sind zwei Inhaltsstoffe in den Blättern, sogenannte Steviolglykoside: Steviosid und Rebaudiosid A.
Blätter selbst nicht zugelassen
Die Blätter der Steviapflanze sind bis heute von der EU nicht auf dem Markt zugelassen, sondern nur die enthaltenen Steviolglykoside. Der feine Unterschied: Während Steviakraut ein natürliches Produkt mit komplexer und je nach Sorte und Anbaugebiet sehr unterschiedlicher stofflicher Zusammensetzung ist, werden Steviolglycoside nach einem definierten chemischen Verfahren extrahiert. Daher ist auch bekannt, aus welchen chemischen Verbindungen die Mischung besteht. Das vereinfacht die Bewertung ihrer Sicherheit.
Stevia = E 960
Seit Ende 2011 sind die süßenden Substanzen – die Steviolglykoside – in der EU erlaubt und zwar als Zusatzstoff (Süßstoff) E 960. In Studien konnte weder eine Gentoxizität (also schadhafte Auswirkungen auf die Erbanlage) noch eine krebserregende Wirkung nachgewiesen werden. Auch negative Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit und die Fortpflanzungsorgane des Menschen wurden nicht festgestellt. Nach einer Stellungnahme der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit vom Januar 2011 gelten bis zu 4 mg Stevioläquivalente* pro kg Körpergewicht bei täglichem Verzehr als gesundheitlich unbedenklich. Das heißt: Nach Einschätzung der Wissenschaftler kann ein Mensch diese Menge sein Leben lang täglich aufnehmen, ohne dass ein gesundheitliches Risiko erwartet wird. Gemeinsam mit Daten zu üblichen Verzehrsmengen wurden daraus Höchstmengen für einzelne Lebensmittelgruppen errechnet. In einer aktuellen Untersuchung von Stiftung Warentest halten alle Produkte die Höchstmengen ein.
Auf ein Problem möchte ich aber hinweisen: Jeder Mensch is(s)t anders. Wer zum Beispiel nur noch Limonade trinkt, die mit Steviolglycosiden gesüßt ist, kann möglicherweise zu große Mengen des neuen Süßstoffes aufnehmen. Besonders bei Kindern könnte das aufgrund ihres geringeren Körpergewichts leicht passieren.
Kalorienfrei und süßer als Zucker
Die Steviolglykoside werden durch ein komplexes chemisches Verfahren aus den Steviablättern gewonnen und so bearbeitet, dass ein weißes reines Pulver entsteht. Es liefert eine deutlich höhere Süßkraft als Haushaltszucker und ist zudem kalorienfrei, leicht wasserlöslich, koch- und backfest und in Lebensmitteln lange haltbar. Mit Steviolglykosiden gesüßte Lebensmittel sind für Diabetiker geeignet und greifen die Zähne nicht an. Diese Eigenschaften machen die süßenden Stoffe für Verbraucher und Hersteller gleichermaßen interessant. In größeren Mengen haben sie allerdings einen leicht bitteren, lakritzartigen Beigeschmack – was durchaus eine interessante Geschmacksnote geben kann, bei vielen Konsumenten allerdings nicht so beliebt ist.
Verbrauchertäuschung bei Stevia-Produkten
Steviolglykoside wurden von der EU für eine Reihe von Lebensmitteln zugelassen. In den meisten Fällen müssen die damit gesüßten Lebensmittel kalorienreduziert sein. Für Verbraucher gilt aber: Genau das Etikett lesen! Denn in vielen Produkten, die vorne groß mit dem Hinweis auf Stevia beworben werden, steckt weiterhin auch Zucker drin, etwa in Form von Fruktose, Glukosesirup oder Isomaltose. Laut Stiftung Warentest ist der Zuckeranteil bei einigen Produkten durch die Verwendung von Stevia um 50% reduziert worden – bei anderen nicht einmal um 10 %.
Außerdem gilt auch bei Stevia-Produkten: Man sollte darauf achten, nicht übermäßig viele süße Lebensmittel zu verzehren – egal woher die Süße kommt. Nur weil Stevia anstatt Zucker zum Süßen verwendet wird, werden aus Schokopudding oder Weihnachtsplätzchen noch lange keine gesunden Produkte. Und eine dauerhafte Geschmacksprägung auf Süßes kann auch durch Stevia-Produkte erfolgen. Letztlich sollte man also auch mit Stevia gesüßte Lebensmittel bewusst als Süßigkeit genießen.
Auswirkungen auf Sättigungszentrum im Gehirn unklar
Zudem ist nicht klar, ob das Sättigungszentrum im Gehirn nach dem Verzehr von Zucker anders reagiert als bei einem Süßungsmittel ohne Energie, wie etwa Stevia. Der Körper könnte irritiert sein, den süßen Geschmack wahrzunehmen, aber keine Energie zu bekommen. Die genauen Auswirkungen bei Stevia sind unter diesem Aspekt aber nicht hinreichend untersucht. Es bleibt zu vermuten, dass der Körper sich instinktiv die vermisste Energiezufuhr auf anderen Wegen holt.
Abschließend noch ein Hinweis: Wer Stevia zum Backen verwenden möchte, muss bedenken, dass die Süßkraft deutlich größer ist als bei Zucker, Stevia aber weniger Volumen liefert. Außerdem kann der lakritzartige Beigeschmack unerwünscht sein.
(*Ergänzung vom 12.12.2012: Da es sich bei den Steviolglykosiden um eine Gruppe verschiedener Stoffe handelt, denen das Steviol gemeinsam ist, werden Grenz- und Höchstwerte in Stevioläquivalenten ausgedrückt. In einer früheren Version hieß es hier 'Steviolglykoside'. Das haben wir nun präzisiert.)